3. September 2017

Review: Gast von Carol Swain


In der Regel weiß ich ziemlich schnell, ob mir ein Comic oder eine Graphic Novel gefällt oder nicht - und warum. Gast von Carol Swain hingegen habe ich jetzt gleich zweimal hintereinander gelesen und bin mir trotzdem noch nicht sicher, was ich von der Geschichte und dem Zeichenstil halten soll. Gast ist warmherzig und philosophisch, aber auch langatmig und gleichförmig. Carol Swain zeichnet wunderschöne Landschaften und für meinen Geschmack hässliche, emotionslose Gesichter. Aber bleiben wir vorerst bei der Story:

Helen ist ein 11-jähriges Mädchen, das mit ihren Eltern von London ins ländliche Wales gezogen ist. Sie beginnt, die Natur zu beobachten und insbesondere Vögel zu skizzieren und katalogisieren. Von einem Nachbarn erfährt sie, dass in der Gegend vor kurzem ein "seltener Vogel" Selbstmord begangen hat. Ungläubig, dass ein Vogel so etwas tun würde, begibt sie sich auf die Suche und entdeckt dabei eine weggeworfene Schminktasche, in der eine Patronenhülse liegt. Sie nimmt die Tasche mit und erfährt von zwei Hunden, dass sie dem Farmer Emrys gehörte - und er der "Vogel" ist. Wer war dieser Mann und warum hat er sich erschossen? Helen will mehr erfahren und fragt Menschen wie Tiere nach Emrys aus.

Inhaltlich bleibt Carol Swain sehr vage, was mir persönlich gut gefällt. So ist etwa schnell klar, dass es sich bei Emrys um einen Transvestit handelt, ausgesprochen wird das aber nie - ebenso wenig der Grund für seinen Selbstmord und das zurückgezogene Leben, auch wenn die Vermutung nahe liegt. Oder ist alles doch nicht so eindeutig, wie es scheint? Denn die meisten Informationen erhält Helen von den Farmtieren, mit denen sie sich unterhält. Genauso gut kann es also sein, dass sie sich die Geschichte auf Basis der gefundenen Schminktasche und ein paar Andeutungen der Menschen um sie herum ausdenkt und ihre Gedanken lediglich auf die Tiere projiziert. Das Schöne ist: Hier sind mehrere Lesweisen möglich. Und ganz nebenbei erfährt man auch, wofür das Wort "Gast" im Walisischen eigentlich steht.

Allerdings hat Gast auch Längen. Zwar passt es zur Geschichte, dass man Helen immer wieder über ihr Notizbuch gebeugt sieht, in dem sie die Geschehnisse des Tages festhält, die zahlreichen Zeichnungen der Natur und vielen Szenen, in denen Helen einfach nur dasitzt und nachdenkt. Mir kam es teils aber so vor, dass Swain die Graphic Novel dadurch künstlich gestreckt hat - und ich habe mich selbst dabei erwischt, wie ich hin und wieder ein paar Seiten einfach nur schnell durchgeblättert habe, anstatt sie zu genießen.

Ebenso zwiespältig sehe ich den Zeichenstil von Swain: Die mit Kohlestiften gezeichneten Landschaften sind sehr gelungen, vor allem die letzten Seiten sind hier herausragend. Mit der Art, wie Swain Figuren und insbesondere Gesichter festhält, kann ich mich jedoch überhaupt nicht anfreunden. Die Mimik ist mir zu gleichförmig, der Strich zu schroff. Oft hatte ich das Gefühl, dass Aussage und Ausdruck einfach nicht zusammenpassen wollen. Durch das klassische 9-Panel-Grid, das Swain konsequent einhält - es gibt nur ein oder zwei Ausnahmen - entsteht zudem ein sehr gleichförmiges Tempo, das, wie ich oben bereits schrieb, mich eher zum schnellen Weiterblättern animiert hat.

Empfehlung oder nicht? Schwer zu sagen. Mir gefällt die ruhige Geschichte und der offene Ansatz, dem Leser nicht alles vorkauen zu wollen. Über die (persönlich empfundenen) Längen kann ich hinwegsehen. Allerdings konnte ich dem Zeichenstil, mit Ausnahme der Landschaften, überhaupt nichts anfangen.


Titel: Gast
Verlag: Fantagraphics Books (05. August 2014)
Preis: ca. 22 Euro (gedruckt)
Sprache: Englisch
Seiten: 176

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Bilder: Gast | Fantagraphics Books
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